
Bei einem meiner Auftrittscoachings sagte ich letztens zu einer Klientin: „Lassen Sie uns doch mal über Fehlerfreundlichkeit sprechen!“, … und erntete von meinem Gegenüber einen verständnislosen Blick.
„Fehlerfreundlichkeit …?!“ Irgendwie könne sie mit dem Begriff gar nicht so viel anfangen. Und mit seiner Bedeutung auseinandergesetzt, habe sie sich erst recht nicht.
Meiner Erfahrung nach geht es vielen Klienten so, die zu mir kommen, um ihr Lampenfieber in den Griff zu kriegen. Seien es professionelle Musiker, ambitionierte Hobby-Musiker oder Menschen, die Reden, Präsentationen oder Vorträge halten müssen.
Warum sollten wir denn zu unseren Fehlern freundlich sein? Wir wollen doch alle am liebsten fehlerfrei – und damit auch makellos, perfekt und unangreifbar – daherkommen, oder?
Wir wollen den perfekten Auftritt, das perfekte Konzert, die perfekte Präsentation, den perfekten Vortrag, bei dem jeder Zuhörer uns an den Lippen hängt und gebannt unseren Worten oder Tönen lauscht und uns am Ende mit tosendem Applaus feiert. Und nicht nur das: Wir wollen uns auch gerne selbst feiern, weil einfach alles so perfekt gelaufen ist.
Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, aber in den letzten Sätzen war ziemlich oft das Wort „perfekt“ drin …
Ich hätte zu meiner Klientin auch sagen können: „Lassen Sie uns doch mal über Perfektionismus sprechen!“
Warum habe ich das nicht getan? Mit diesem Begriff und dessen Bedeutung hätte sie doch vermutlich viel mehr anfangen können …
Schließlich wollen wir alle gerne so perfekt wie möglich sein. Wir hätten gerne den perfekten Körper, den perfekten Job, die perfekte Wohnung oder das perfekte Haus, den perfekten Partner oder wollen auch selbst gern der perfekte Partner sein.
Oder – nun wieder zurück zum Thema – wir möchten das perfekte Konzert abliefern, am besten wie auf der CD-Aufnahme, die wir letztens noch gehört haben, oder die perfekte Rede halten, wie dieser Top-Speaker, dessen Youtube-Videos millionenfach angeklickt wurden und der Säle mit tausenden Zuhörern füllt.
Also warum habe ich mit meiner Klientin – absichtlich – nicht über Perfektionismus gesprochen?
Weil Perfektionismus Druck erzeugt! Und zwar einen Druck, den wir bei Auftritten nun wahrlich nicht gebrauchen können. Klar, wir wollen unsere Sache gut machen. Und daran ist auch gar nichts auszusetzen. Aber was passiert, wenn wir den Anspruch an uns haben, perfekt zu sein?
Genau! Eigentlich können wir nur scheitern. Wir scheitern quasi an unseren eigenen Ansprüchen. Vielleicht haben auch andere einen gewissen Anspruch an uns, aber in den meisten Fällen spielt der, zumindest meiner Erfahrung nach, eine eher untergeordnete Rolle.

Bei vielen Klienten, die unter starkem Lampenfieber leiden, stellen Fehler in der Auftrittssituation eine Bedrohung des Selbstwertes dar.
„Je mehr Leistung zum Kriterium für unsere soziale Rolle und unseren Selbstwert wird, desto gravierender ist ein Versagen“, sagt der Psychologe und Fehlerforscher (ja, sowas gibt´s wirklich!) Olaf Morgenroth. Wenn jemand also über die Maßen leistungsorientiert und perfektionistisch veranlagt ist, darüber auch den eigenen Wert definiert und sich stark mit seiner erbrachten Leistung identifiziert, desto tiefer ist der Fall, wenn Fehler gemacht werden. Desto mehr gerät das eigene Selbstbild ins Wanken. Desto mehr Angst entsteht, sozial nicht mehr akzeptiert zu werden.
Und das hat auch gesellschaftliche Gründe. Der Wirtschaftspsychologe Michael Frese untersucht, wie verschiedene Kulturen mit Fehlern umgehen und hat die Toleranz für Fehler in 61 Ländern verglichen. Demnach ist Deutschland das Land mit der zweitschlechtesten Fehlerkultur. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich hat das irgendwie erschreckt, als ich davon gelesen habe.
Wir sind also frustriert und enttäuscht … enttäuscht von uns selbst … weil wir nicht perfekt waren.
Echt jetzt?!
Wenn wir mal mit ein bisschen Abstand an die Sache gehen oder uns einfach vorstellen, was wir einem Freund raten würden, der ganz offensichtlich einen solch hohen Anspruch an sich hat – was würden wir ihm sagen?
Vielleicht so etwas wie „Mein Freund, merkst du eigentlich, wie du dich da gerade unter Druck setzt? Das hält doch kein Mensch aus! Apropos Mensch: Vielleicht hast du es nicht auf dem Schirm, aber du bist einer. Also ein Mensch. Und Menschen sind nicht perfekt. Die machen Fehler. Und: Die dürfen das. Weil wegen Mensch-Sein!“
Und da sind wir wieder bei den Fehlern. Wie schön und vor allem hilfreich wäre es, wenn wir genau das, was wir zu einem Freund sagen würden, zu uns selbst sagen könnten? Und es aus tiefstem Herzen auch so meinen … ?!
Wie viel menschlicher – und dadurch vielleicht sogar überzeugender, musikalischer, humorvoller, sympathischer – könnten wir auf- und in Erscheinung treten?
Natürlich sollten wir, wenn wir Fehler machen, diese zugeben und nicht verdrängen oder darüber hinweggehen. Wir sollten sie auch – mit ein bisschen Abstand und gewiss nicht während des Konzerts oder Vortrags, denn dann verlieren wir die Konzentration – analysieren und die Fehlerquellen identifizieren.
Das heißt nicht, dass wir uns nicht auch einfach mal gepflegt ärgern dürfen, wenn etwas nicht gut gelaufen ist. Es ist völlig in Ordnung ärgerlich und wütend zu sein. Jedes Gefühl, das wir haben, hat ein Recht da zu sein und gefühlt zu werden.
Aber, und jetzt aufgepasst, wir sollten unseren Selbstwert nicht ans Richtigmachen knüpfen. Darin liegt die wahre Kunst!
Noch ein paar Worte zum Reflektieren und Analysieren von Fehlern: Sich darüber bewusst zu sein, dass da ein Fehler passiert ist und sich vorzunehmen, es beim nächsten Mal besser zu machen, ist zwar ein erster Schritt, reicht jedoch blöderweise meistens leider nicht aus.
Reflektieren und Analysieren bedeutet schließlich, dass wir uns fragen müssen, wie der Fehler zustande gekommen ist. Ein schöner Nebenenffekt dabei ist übrigens, dass wir so in ein Handeln kommen und nicht nur still und leise hoffen, dass es beim nächsten Mal vielleicht besser läuft.

Aber statt sich zu fragen „Warum ist es mir nicht gelungen, das (z.B. die schwierige Stelle beim Probespiel, den hohen Ton in der Pflichtarie, die Pointe beim Vortrag usw.) richtig zu machen?”, könnten wir uns auch – im besten Fall sogar mit einer Prise Staunen – fragen „Wie ist es mir denn gelungen, diesen Fehler zu machen?”. Allein die Fragestellung macht meiner Erfahrung nach einen deutlichen Unterschied, wie wir Fehler im Nachhinein bewerten und wieviel „Lust“ wir haben, uns mit ihnen wirklich auseinanderzusetzen.
Humor hilft da, wie so oft, auch ziemlich gut. Es mag etwas pragmatisch erscheinen, aber wie wäre es mit einem Satz von Samuel Beckett als eine Art Motto für zukünftige Auftritte?
„Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.”
Und nur so als Randnotiz: Es gibt mittlerweile in vielen Ländern eine „FailCon“. Eine Messe nach amerikanischem Vorbild, auf der gescheiterte Unternehmer über ihre Fehler sprechen, damit andere aus diesen Erfahrungen lernen können. Scheitern als Chance also. Für sich und auch für andere.
Ich glaube, wenn wir unseren Fehlern auf eine freundliche Art und Weise begegnen, begegnen wir uns selbst auch so. Verstehen Sie mich nicht falsch: Mir ist durchaus bewusst – auch aus eigener und immer wiederkehrender Erfahrung – dass das alles andere als leicht ist. Wie schön wäre es, wenn es dafür einen Schalter gäbe, den man einfach umlegen könnte … Stattdessen bedeutet diese Veränderung, wie jeder andere Veränderungsprozess auch, Arbeit, dranbleiben, ab und zu eine Beobachterposition einnehmen … oder eben die des guten Freundes von eben.
Wenn wir es schaffen, unsere Einstellung zu Fehlern zu ändern, ändern wir automatisch die Einstellung zu uns selbst. Und wahrscheinlich sehen wir dann auch viel eher, was wir schon können oder was bei einem Konzert oder bei einem Vortrag toll gelaufen ist und was wir echt gut hingekriegt haben.
Das wird uns nicht davon abhalten, alles aus uns rausholen zu wollen und all das Talent und alle Fähigkeiten zeigen zu wollen, die wir besitzen. Und es wird uns auch nicht davon abhalten, immer besser werden zu wollen. Aber wir müssen nicht mehr auf ‚Teufel komm raus‘ perfekt sein. Wir können die beste Version unserer Selbst sein … oder werden!
Mit allen Macken, Makeln und Marotten.
Und mit allen Besonderheiten, Eigenheiten und Menschlichkeiten.
Wenn Sie mich fragen: DAS würde ich gerne feiern!
(* „You´re only human“ von Billy Joel)